Page 50 - Nachhaltigkeitsmagazin 2020
P. 50
Region und Gesellschaft Nachhaltigkeitsmagazin 2020
Philosophische
Weitblicke Eindruck gehabt, dass es irrationale Ausbrüche von Angst in „UMDENKEN IST
den vergangenen Monaten gegeben hat, eher schon eine
ziemlich rasch einsetzende, geradezu verantwortungslose
Sorglosigkeit. EIN GROSSES WORT.
| Wie verhält es sich dabei mit der individuellen und der ICH DENKE, ES
kollektiven Angst?
Individuelle Ängste steuern mein Verhalten, ich halte mich GENÜGT, WENN WIR
Konrad Paul Liessmann ist Professor am Institut für Philoso- dann z. B. von Menschenansammlungen fern, kollektive EINIGE UNSERER
phie an der Universität Wien und darüber hinaus als Essayist Ängste äußern sich in kollektiven Verhaltensweisen, z. B. Mas-
und Kulturpublizist tätig. Im Interview spricht der gebürtige sen uchten, Hamsterkäufen etc. oder letztlich in politischen GEWOHNHEITEN
Villacher über die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Handlungen, und sei es auch nur das Kreuz bei der nächsten ÄNDERN. “
Wahl.
Gesellschaft, den Umstieg auf nachhaltige Technologien und
darüber, was Nachhaltigkeit für ihn bedeutet. Ein viel beschworenes Thema war die Transparenz und
das (Halb-)Wissen rund um die Covid-19-Pandemie. Wie Der Grat zwischen nötiger Information und Aufklärung
viel Wissen kann man in so einer Situation in der Be- einerseits und Beein ussung der Menschen in so einer
völkerung voraussetzen, wie viel Information müssen Krise andererseits ist sehr schmal. Wie weit dürfen eine
Regierung und Behörden liefern, welche Rolle haben die Regierung und ihre Organe in so einer Situation gehen?
H err Liessmann, Sie arbeiten gerade intensiv gen, dass die Corona-Krise tiefgreifende Änderungen in der Das Problem bestand ja darin, dass es kein gesichertes Das Problem: Es gibt keine klaren Grenzen. Arbeitet die
Wo sind da klare Grenzen zu ziehen?
Medien dabei?
Regierung mit Horrorszenarien, um bestimmte Maßnahmen
an einem neuen Buch. Können Sie schon ver-
Gesellschaft nach sich ziehen wird. Wir scha en es ja kaum,
Wissen gab. Die Bevölkerung wurde mit einem Phänomen
ächendeckend konfrontiert, dass Wissenschaftlern natürlich
zu legitimieren, kann man ihr mit Recht Übertreibung und
raten, worum es darin geht?
auch nur ein halbes Jahr auf liebgewordene Gewohnheiten,
Gerne. Der Titel wird lauten: „Alle Lust will Ewig-
keit“, und es wird um die zentralen Dinge des menschlichen etwa was das Freizeitverhalten betri t, zu verzichten oder bekannt ist: dass es keine absolute wissenschaftliche Wahr- Panikmache vorwerfen. Spielt sie die Gefahr herunter, wie
heit gibt, sondern nur konkurrierende Hypothesen und Theo-
diese umzugestalten. Wir werden noch einige Zeit, oft wider
etwa in den USA geschehen, bezichtigt man sie der Ignoranz
Lebens gehen, die wir über die eine oder andere Tagesak- Willen, wie zahlreiche Demonstrationen zeigen, vorsichtig rien. In kritischen Situationen, in denen rasch entschieden und rechnet ihr dann die Kranken und Toten vor. In solchen
tualität gerne vergessen: Was bedeuten Schmerz und Lust sein und dann alles daransetzen, das, worauf wir verzichten werden muss, erscheint dies als wenig hilfreich und ö net Tür Situationen müssen wir vielleicht damit rechnen, dass man
für uns, wie vernünftig sollen wir sein, welche Erfahrungen mussten, rasch nachzuholen. Auf Klima und Umwelt wird die und Tor für Vermutungen aller Art. Je besser die Vorbildung nicht richtig, sondern nur mit bestem Wissen und Gewissen
prägen uns wirklich, wie gehen wir mit unserer eigenen Krise deshalb wenig Auswirkungen haben, ein bisschen mehr der Menschen, umso besser können sie auch mit solchen handeln kann, auch um den Preis, dass man sich geirrt haben
und unserer kollektiven Vergangenheit um, was bedeutet Homeo ce und größere Schutzmaskenvorräte werden alles Unsicherheiten umgehen. Natürlich verstehe ich, dass man, könnte.
Zukunft? sein, was bleiben wird. um panische Reaktionen zu vermeiden, manche Dinge nicht
kommuniziert. Mittlerweile wird ja o en zugegeben, dass Der Volksmund sagt: „Glauben heißt nichts wissen.“
Die vergangenen Monate standen sehr stark unter dem Wie viel Angst ist in so einer Gesundheitskrise ange- man die Bedeutung von Masken am Anfang hinunterspielte, Wenn grundlegende Bildung fehlt, ist man darauf ange-
Eindruck der Covid-19-Pandemie und ihren Auswirkun- bracht? weil einfach keine Schutzmasken vorrätig waren. Aber für das wiesen, zu glauben, was andere vordenken. Können Sie
gen. Wie haben Sie persönlich diese Zeit erlebt? Angst als irrationale, ungerichtete und deshalb leicht instru- Verwirrspiel um die „Ampel“ habe ich kein Verständnis. Man dem etwas abgewinnen?
Da ich diesen Sommer bzw. die Monate davor ohnehin die mentalisierbare Emotion ist in der Regel kein guter Ratgeber. scha t kein Vertrauen, wenn man signalisiert, dass die Kri- Natürlich! Die Idee der Aufklärung war es immer, dass Men-
Absicht hatte, in einer gewissen Zurückgezogenheit an Vor einer gefährlichen epidemischen Krankheit sind eine terien für die Gefährlichkeit einer Epidemie von partei- und schen imstande sein sollen, aufgrund ihres Wissens und ver-
meinem Buch zu schreiben, ist mir die Zeit nicht schwerge- gewisse Furcht und Besorgnis allerdings angebracht. Abgese- wirtschaftspolitischen Erwägungen abhängen. Die Medien nünftiger Überlegungen selbst begründete Urteile zu fällen.
fallen, manchmal habe ich den Stillstand und die Ruhe sogar hen davon halte ich nichts von einer generellen Verteufelung spielen da leider oft mit, eine kritische, aber nüchterne Be- Unser Problem besteht mittlerweile allerdings nicht darin,
genossen. Ich weiß, dass dies eine privilegierte Situation war. der Angst. Angst ist manchmal ein überlebensnotwendiger richterstattung habe ich manchmal vermisst. dass wir nichts wissen, sondern dass wir nicht wissen, wel-
Allmählich wäre ich aber auch wieder froh, könnte die Gefahr, A ekt, der natürlich vernunftgesteuert sein und nicht zu ches Wissen gerade gefragt ist. Ich war schon auch verblü t,
die durch das Virus ausgeht, nachhaltig gebannt werden. panischen, irrationalen Verhalten führen sollte. Bei Covid-19 wie schnell sich manche Journalisten in wenigen Wochen zu
bestand ja von Anfang an das Problem darin, dass sich über unfehlbaren Experten in Sachen Virologie und Epidemiologie
Was hat die Corona-Krise mit uns gemacht? Wird sich den Charakter dieser Krankheit auch die Experten nicht einig herangebildet haben, ganz ohne Studium und Forschungs-
durch diese Erfahrung Grundlegendes in der Gesellschaft waren und deshalb von der Verharmlosung – nur eine leichte arbeit. Auch hier bewegen wir uns auf einem schmalen Grat
und im Zusammenleben ändern? Grippe – bis zur Übertreibung – exzessives Massensterben – zwischen aufwendig generiertem Expertenwissen und den
Ich war immer skeptisch bezüglich der großen Erwartun- alle Deutungen möglich waren. Ich habe übrigens nie den Möglichkeiten, sich durch die Informationen, die das –>
50 51